Der 28. Oktober 2015
war kein schöner Tag für Frank Appel, den CEO von Deutsche Post DHL, und seinen
Finanzchef Larry Rosen. Das Managerduo musste an diesem Tag eine Gewinnwarnung
herausgeben, die es in sich hatte. Hauptgrund war eine Abschreibung von 345
Mio. Euro für ein gescheitertes Softwareprojekt in der Speditionssparte Global
Forwarding.
Zuviel und alles auf einmal
Was waren die Ursachen
für das Debakel? Eine offizielle Erklärung für das Scheitern des IT-Projekts
lieferte Finanzchef Rosen: Die Software sei viel zu kompliziert und im Ergebnis
fehlerhaft gewesen.
Auch Frank Appel
äußerte sich zu den Ursachen in einem Interview mit der DVZ. „Wir waren zu ambitioniert, wir wollten zu
viel auf einmal. Anstatt schrittweise vorzugehen, haben wir uns vorgenommen,
die gesamte IT-Landschaft auf einen Schlag zu ersetzen und gleichzeitig die
Organisation geändert.“
IT-Projekte scheitern oft
In Sachen gescheiterter
IT-Projekte ist die Deutsche Post kein Einzelfall. Weltweit sind nur 29 % der
IT-Vorhaben uneingeschränkt erfolgreich – so das Ergebnis des Project Benchmark Reports der Standish Group, der jährlich 50.000 IT-Projekte untersucht. Bei 52 % der
Projekte gab es Verzögerungen, Budgetüberschreitungen oder Verfehlungen
qualitativer Projektziele. 19 % der Projekte scheiterten komplett.
Ein Hauptproblem, das
den Erfolg von IT-Projekten beeinflusst – nicht nur von Großvorhaben: Ein
überfrachteter Funktionsumfang, der auf einen Schlag realisiert werden soll.
„Oftmals entdecken die Auftraggeber jedoch erst im Verlauf, was sie konkret
wirklich brauchen“, erläutert Matthias Kieß, Geschäftsführer des Softwareanbieters AEB. Dann sind meistens bereits
Lasten- und Pflichtenhefte definiert, die zugehörigen Werkverträge
unterzeichnet und erste Funktionen umgesetzt. Was folgt, sind Änderungen im
laufenden Vorhaben – in der Regel verbunden mit Verzögerungen und
Kostensteigerungen.
Projektmanagement: Vorteile durch iteratives Vorgehen
Derartige Ergebnisse
fördern eine neue Herangehensweise in IT-Projekten: Weg von langwierigen
Wasserfallprojekten, hin zu agilen Organisationsformen, transparenter
Zusammenarbeit und zu überschaubaren Zielhorizonten – und einem eher lebenden,
sich ständig weiterentwickelnden System als Ziel.
Ziel ist es nicht, in
einem Projekt lange auf eine Lösung hinzuarbeiten, die dann am Projektende mit
einem Schlag vollständig und final verfügbar sein muss. Es geht vielmehr darum,
schnell eine gute Lösung zu erreichen, mit der man arbeiten kann.
Durch eine kürzere
Taktung von langwierigen Projekten in kürzere Sprints und der frühzeitigen
Einbeziehung der Nutzer sind Fehlentwicklungen schneller erkenn- und
korrigierbar. Das senkt die Risiken. Ein weiterer Vorteil des iterativen
Vorgehens: Die Funktionen, die als wettbewerbskritisch identifiziert sind,
erreichen schneller Anwendungsreife, weil sie in den Projekten zeitlich den
Nebenfunktionen vorangestellt werden.
Neue Generation, neues Glück?
Trotz der Vorteile: Der
Verbreitungsgrad agiler Methoden ist laut Studien in der Praxis noch gering,
steigt aber. Und viele Unternehmen machen bereits auf einer operativen, smarten
Ebene das, was die Konzepte hinter einem agilen Vorgehen sind.
Befeuert und gefordert
wird dieser Trend hin zu einer agileren Vorgehensweise durch den zunehmenden
Einzug der Generation Y in den Unternehmen – also von Mitarbeitern, die im
Zeitraum von etwa 1980 bis 1999 geboren wurden. „Der Generation Y ist die agile
Denk- und Arbeitsweise viel näher als allen anderen Generationen“, meinte etwa die
Beraterin Judith Andresen in einem Interview. „Es liegt ihr näher, in fluiden,
interdisziplinären Teams und weniger hierarchiebetont zu arbeiten.“
Agil früh Nutzen generieren
Durch das agile
Vorgehen soll wie beschrieben ein schnelleres Ergebnis erreicht werden, das
bereits früh einen Nutzen liefert. Gerade in Software-Projekten zählt dabei die
Erkenntnis: Vieles wird zwar fertig, das meiste davon aber nie ganz oder viel
zu spät. „Die letzten Prozent sind die, welche die wirklichen Herausforderungen
mitbringen und den größten Aufwand abverlangen“, sagt Markus Meißner, ebenfalls Geschäftsführer bei AEB. „Der Nutzen aus einem Vorhaben könnte
größtenteils schon viel früher erzielt werden, ohne die letzten 20 % zu
perfektionieren. Dazu benötigt man aber auch die Einsicht für kontinuierliche
Veränderungen. IT-Systeme werden und müssen sich immer weiterentwickeln und mit
den Geschäftsanforderungen mitwachsen.“
In der Praxis gibt es
daher zahlreiche Projekte, bei denen aus der provisorischen Übergangslösung
eine über Jahre genutzte Lösung entstand, die nach und nach optimiert wurde.
Nachwachsende Erkenntnisse flossen dabei ebenso ein wie sich ändernde
Anforderungen. Softwareanbieter und IT-Abteilungen sind durch die Nähe zum und
den kontinuierlichen Austausch mit dem Nutzer erfolgreicher, weil sie deren
Leben immer noch ein Stückchen leichter machen konnten.
Im Trend: Software à la „Living Beta“
Der Ansatz passt gut zu
den nachrückenden, IT-affineren User der Generation Y in den Fachabteilungen Denn
diese sind geprägt von einer sehr pragmatischen Mentalität getreu dem Motto:
Ich lade mir eine App und wenn diese nicht zu 100 % funktioniert, nutze ich sie
trotzdem – ein Update wird schon bald kommen und das Problem beheben.
Am besten lässt sich
dieser Umstand vielleicht mit dem Ausdruck „Living Beta“ beschreiben: Man lebt
und arbeitet bewusst mit einer Beta-Version, weil man weiß, dass es keine
finale Version geben wird. Warum dies also nicht zum Prinzip erklären – auch
für IT-Projekte? Dies verhindert Softwareleichen, die später nur Kosten und
Ärger, aber keinen Nutzen bringen. Das Ergebnis sind vielmehr Systeme, die sich
nach und nach organisch optimieren – genau an den Stellen, an denen sich die
Nutzung wirklich signifikant verbessern lässt.
Und die Bereitschaft,
bei sich ändernden Anforderungen weiter in ein derartiges System zu
investieren, ist größer als bei einem „Rock-Solid-Full-Specified-System“, bei
dem man sich mit viel Geld zu einem – wenn überhaupt – 100 % fertigen Ergebnis
gequält hat. In diesem Sinne ist heute das „weniger Falsch“ das „neue Richtig“.
Software in Losgröße 1?
Diese Living-Beta-Denke
verlangt aber auch nach einem neuen Typ an IT-Lösungen. Reine Standardsoftware
stößt hier an ihre Grenzen. Oftmals ist diese zu starr und unflexibel. Wenn die
Welt volatiler, ungewisser und komplexer wird, müssen Logistik- und
Außenwirtschaftsprozesse adaptiver und flexibler werden. Eine VUCA-Welt verlangt ständige
Anpassungen – und eine Software, die dies ermöglicht.
Ein Trend, der sich im Software-Bereich
abzeichnet: Software in Losgröße 1 auf Basis von Standardkomponenten. Das
Vorbild dieser Entwicklung ist die industrielle Produktion: Hier produzieren
Fertigungsstraßen aus Standardmodulen und eigens erstellten Komponenten ein
maßgeschneidertes Produkt. Im Automobil- und im Maschinenbau funktioniert das
schon hervorragend. Aus Baukästen werden individuelle Kundenwunschlösungen
umgesetzt. Ein ähnliches Vorgehen fordert Prof. Michael ten Hompel, Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik ISST in Dortmund auch für die IT-Branche. Software solle in
Zukunft so produziert werden, wie wir heute in Deutschland Autos bauen.
Best-Practice-Vorlagen nutzen
Im Grunde bedeutet das:
IT-Anbieter verwenden Standard-Business-Services, die sie in eine flexible,
individuell anpassbare Prozess-Schicht integrieren. Ein großer Vorteil: „Der
Anwender bekommt eine Lösung basierend auf Best-Practice-Vorlagen, die so offen
anpassbar ist, dass er Änderungen sogar selber vornehmen kann“, erklärt Kieß.
„Die Standardkomponenten mit den Fachfunktionen sorgen für die entsprechende
Stabilität. Beispielsweise würde die Funktionalität Zollabwicklung dem ganz
normalen Wartungszyklus einer Standardsoftware entsprechen und damit alle
Aktualisierungen und Anforderungen seitens des Zolls erfüllen.“ Zudem lassen
sich derartige Lösungen einfach erweitern, indem neue
Standard-Business-Services integriert werden.
Ein weiterer Vorteil:
Durch die anpassbare Prozessschicht können Anforderungen individuell
unterstützt werden. Das erleichtert es Logistik- und
Außenwirtschaftsabteilungen, ihrer Rolle als Innovationsmotor und
Business-Treiber nachzukommen. Und es hilft den Unternehmen, sich in diesem
Bereich vom Wettbewerb zu differenzieren – etwa durch spezielle Lieferoptionen oder
Verpackungen, oder indem sogar neue Geschäftsmodelle ermöglicht werden.
Individuell passgenau durch Geschäftsprozessmodellierung
Um diese individuelle
Prozessunterstützung zu gewährleisten, verfügen die Lösungen dazu teilweise über
eine integrierte Geschäftsprozessmodellierung (BPMN). Dadurch erfolgen
Prozess-Definition, -Dokumentation und -Ausführung in einem System und die
Anwendung wird Schritt für Schritt maßgeschneidert aufgebaut.
Neue Aufgaben – etwa
die Integration der Exportkontrolle in einen Versandprozess – lassen sich
einfach in einen bestehenden Prozess einbauen. Auch Änderungen wie eine neue
Bearbeitungsreihenfolge können per Mausklick umgesetzt werden.
Den Nutzer in den Fokus nehmen
Individuellere
IT-Unterstützung im Sinne der gerade geschilderten Lösungen bringt oftmals noch
einen weiteren Aspekt mit sich: Die Software wird immer mehr auf die spezifische
Rolle der Mitarbeiter in den Logistik- und Zollabteilungen zugeschnitten. Im
Fokus stehen die Aufgaben, die im jeweiligen Arbeitsschritt erledigt werden
sollen, und deren Bearbeiter – und nicht das Objekt, das bearbeitet wird. Hier
geht es etwa um die Frage, welche Informationen der jeweilige Mitarbeiter
benötigt und wie entsprechend die Masken in der Software für diesen
Arbeitsschritt gestaltet sein sollten. Das vermeidet Fehler, sorgt für mehr für
mehr Effizienz – und für mehr Freude am Anwenden.
Generell
gewinnt das Thema User Experience an Bedeutung. IT ist auch im Privatleben zum
alltäglichen Konsumgut geworden. Und so halten in jüngster Zeit mehr und mehr Gewohnheiten
aus dem privaten Umfeld Einzug in die Welt der Business-IT. Schon 2014 schrieb das Magazin PC-Welt, Unternehmen müssten sich dieser
„Consumerization“ stellen: „Die IT-Revolution, ausgelöst durch die Mitarbeiter,
hat unaufhaltsam begonnen.“
Software-Consumerization ist in vollem Gange
In
Sachen Nutzer- und Bedienfreundlichkeit heißt das beispielsweise: Warum sollte
Business-Software nicht so einfach bedienbar sein wie die Private-Banking- oder
Wetter-App auf dem Smartphone? Doch die Consumerization der IT reicht noch
weiter. Der Softwarehersteller AEB spricht von
einer 360-Grad-Customer-Experience (siehe Grafik).
Demnach
bilden zwar die Funktionalität, die Integrationsfähigkeit und die User
Experience wichtige Leistungsmerkmale einer Software. Für Unternehmen und vor
allem Anwender werden aber weitere Faktoren wichtig wie etwa das Kauferlebnis –
die „Buying Experience“. Aus ihrem privaten Umfeld sind sie es beispielsweise
gewohnt, Software einfach im Webshop zu kaufen und sofort nutzen zu können –
ohne aufwändiges Vertragswerk. Auch Freemium-Angebote und kostenlose Probe-Abos
halten so im Business-Umfeld Einzug.
Ganz generell wird sich
die Customer Experience ändern müssen: Guter Support und erreichbare Hotlines
sind längst eine Selbstverständlichkeit. Die Anwender erwarten aber auch Hilfe
und Unterstützung via Chat oder den fachlichen Austausch in einer Community. „Zudem
wird der Selfservice-Gedanke auch bei Business-IT an Bedeutung gewinnen:
Zusätzliche Anwender freischalten, neue Szenarien einrichten oder einen
Tarifwechsel vornehmen, all das wollen Anwender ohne den Umweg von Call Centern
oder schriftlichen Anträgen in Eigenregie erledigen – online, mit wenigen
Clicks“, ist sich Markus Meißner sicher.
Mit IT zum Innovator werden
Die Consumerization der
IT begünstigt die Verbreitung von Schatten-IT – also Hardware oder Software
innerhalb eines Unternehmens, die nicht von der zentralen IT-Abteilung der
Organisation unterstützt wird. Wenn Lösungen einfach zu erwerben, einfach zu
implementieren und zu integrieren sind, werden Fachabteilungen diese zunehmend
ohne die Zusammenarbeit mit der unternehmenseigenen IT einsetzen.
Hinzu kommt: „Der
größte Teil der vorhandenen IT-Kapazitäten ist heute durch die
Aufrechterhaltung des Betriebs und die Aktualisierung der existierenden Systeme
gebunden. Die verbleibende Reaktionszeit ist den Fachbereichen, die ihrerseits
unter immer größerem Änderungsdruck stehen, nicht mehr ausreichend“, sagt Meißner.
Zu kurz kommen in den
IT-Abteilungen oft zukunftsweisende Themen.
Die Fachabteilungen nehmen daher diese Aufgabe selbst in die Hand,
treffen technologische Entscheidungen und treiben damit Innovationen voran. Das
Ergebnis: Eine Dezentralisierung der IT, oftmals im Sinne einer Schatten-IT,
mit zunehmenden IT-Kompetenzen und -Budgets in den Fachabteilungen.
Neue Generation an IT-Landschaften
Konzepte
wie Living Beta, agiles Projektmanagement und Consumerization prägen und
verändern die IT-Landschaft in den Unternehmen. Sie helfen bei der immer stärkeren
Ausrichtung am Kunden des Unternehmens, das die Software nutzt – und auch an
dessen Kunden, ganz im Sinne eines ganzheitlichen Customer-Centricities-Ansatzes.
Und sorgen damit für eine kleine Revolution abseits des Rampenlichts großer
Tech-Megatrends, die den Nutzen in den Vordergrund stellt.